12 Kleinigkeiten, die ich an Michigan mag

Ok, jetzt muss ich erstmal kurz einen Bogen schlagen. Amerika zu mögen ist keine Selbstverständlichkeit – und in den letzten Jahren wird es immer schwieriger nachzuvollziehen, welche Monstrositäten hier politisch, gesellschaftlich und sehr öffentlich passieren. Das, was der Supreme Court zur Zeit treibt, macht mich fassungslos und wütend. Die Situation ist unerträglich und brandgefährlich. Eigentlich ist mir danach, zu schreien, gerade als Deutsche, die weiß, wie die Nazis an die Macht kommen konnten. Aber statt jetzt meiner Wut freien Lauf zu lassen, betone ich hiermit meinen Dissent und tue das Gegenteil: Ich breche eine Lanze, weil ich glaube, dass a) die Vernünftigen hier möglichst viel weltweite Unterstützung und Solidarität brauchen, und b) weil diese Demokratie nur mit Menschlichkeit zu retten ist. Noch sind es „nur“ 30-50 Prozent, die wenig nachvollziehbare, haarsträubende Ansichten haben und den Rattenfängern hinterherlaufen. Aber da sind eben noch die anderen. Und viel wichtiger: auch von jenen mit sehr zweifelhaften, uninformierten politischen Vorstellungen sind die allermeisten keine Unmenschen. Im Gegenteil. 

Und ich muss noch einen Bogen schlagen, bevor ich auf den Punkt komme. Ich habe schon oft gesagt, wie gerne ich in Ann Arbor lebe. Das ist ein extrem liberales, tiefenentspanntes Collegestädtchen mit dem drittgrößten Stadium der Welt. Warum das eine Rolle spielt? Das ‚Big House‘ fasst 100.000 Menschen (Ann Arbor hat 120.00 Einwohner) – so ein Projekt geht man nur an, wenn man sich der Spendengelder von Ehemaligen sicher sein kann. Die Uni bestimmt das Stadtleben und ist eine der angesehensten (und teuersten) öffentlichen Unis Amerikas. Absolventen aus Ann Arbor können hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, ihre Studentenschulden eventuell abbezahlen und so großzügig an ihre Alma mater spenden, dass diese sich ein unfassbar großes Stadium leisten kann. Will sagen: Ann Arbor ist wohlhabend und voll von multikulti AkademikerInnen. Also nicht repräsentativ, weder für Michigan noch für den Rest der USA. Vieles, was wir hier als normal empfinden, gilt nicht 20 Meilen außerhalb der City Limits. Das weiß ich. Meine Beispiele sind größtenteils nicht aus Ann Arbor. Das mache ich dann mal in einem anderen Blogpost, das wird noch ein bisschen wilder :o)

Und hier kommt meine völlig willkürliche und unvollständige Liste an Kleinigkeiten, die ich hier mag.  

Schilder in Michigan

In Deutschland sind Baustellen-Schilder unpersönlich formuliert. Hier wird es auf den Punkt gebracht: Passt auf, hier arbeiten Menschen. Ein blinder oder hörgeschädigter Mensch in der Nachbarschaft ist ein Schild wert: Passt auf, hier hat jemand ein Handicap. Na gut, die Eichhörnchen- und Angler-Schilder haben es noch nicht zur Serienreife gebracht. Aber immerhin.
In Baustellen verdoppeln sich übrigens die Strafen für zu schnelles Fahren, wenn Arbeiter anwesend sind.

  • Men at work Baustellenschild
  • deaf child area
  • Squirrel crossing XING Eichhörnchen
  • Fisherman XING crossing sign Angler

Hilfsbereitschaft in Michigan

Trucker, die sich vereinen, um dem Menschen, der sich von dieser Autobahnbrücke in Detroit stürzen will, das Leben zu retten. Da kann und muss ich nichts weiter zu sagen, aber das Bild bringt auf den Punkt, wie ich AmerikanerInnen sehr, sehr oft erlebe: Wenn geholfen werden muss, packen alle sofort und ohne zu zögern an.

Ich schulde irgendjemandem Credits für dieses Bild. Ich glaube, es ist aus einer Detroiter Online-Zeitung. Und ich glaube auch, dass der/die Fotografin möchte, dass dieses Bild um die Welt geht, auch wenn ich einfach nicht weiß, wer es gemacht hat bzw. die Rechte daran hat.

All Way Stops in Michigan

All way stop bedeutet, dass alle anhalten müssen und dann der Reihe nach gefahren werden darf. Je nachdem muss dann schon mal abgestimmt werden, wer zuerst fahren darf. Ich mag das, weil sich dann alle verständigen müssen. Oft kommt es zu lustigen Situationen; Missverständnisse oder Unfälle habe ich noch nie gesehen.
Allerdings muss ich mich immer noch manchmal überwinden, über das Stop-Schild zu fahren, wenn auf der anderen Seite jemand steht. Komischerweise sehen hier viele Amerikaner Kreisverkehre als gefährliches Teufelswerk – damit kommen sie nicht so gut klar. Die sollten sich mal die siebenspurigen Höllenkreisel in Valencia anschauen, in denen die in der ganz linken Spur gleich bei der ersten Ausfahrt rechts rauswollen und dann quer über sechs Spuren fahren. Aber das ist wieder einen eigenen Blogpost wert.

stop all way Ann Arbor Michigan Stepchild
Organisiertes Chaos

Großzügigkeit in Michigan

Mir fällt hier auf, wie großzügig die Menschen sind. Im Großen, wenn sie unglaubliche Summen spenden – siehe Big House. Oder bei einem Spendenabend für unsere Grundschule ein selbstgekochtes Abendessen mit unserem Schulleiter und seinem Gourmet-Koch-Ehemann für 1.800 Dollar versteigert wird.
Aber auch im Kleinen: Viele vermuten, dass die Amerikaner das System mit den Münzen im Einkaufswagen nicht verstehen, aber das tun sie sehr wohl. Sie ticken einfach nur anders. Mir hat mal eine Deutsche bei einer Party ganz stolz erzählt, dass sie irgendwann reich wird, weil sie immer bei Aldi die ganzen ‚vergessenen‘ Quarter (25-Cent-Münze, ungefähr 25 Eurocent) aus den Einkaufswagen einsammelt. Ich habe mir hier abgeguckt, meinen Quarter stecken zu lassen, damit der/die Nächste den Einkaufswagen benutzen kann, falls er/sie kein Kleingeld dabei hat. Normalerweise übergibt mir jemand seinen/ihren Wagen, wenn ich ankomme, und in der Regel winken die Menschen dann ab, wenn ich den Quarter anbiete.
Auf dem Flughafen-Langzeitparkplatz hat mir jemand einen Dollar geschenkt, weil ich nicht genug Kleingeld als Trinkgeld für die Shuttlebus-Fahrerin hatte.

Einkaufswagen Aldi
Nein, sie sind nicht zu doof für das System. Sie verschenken nur gerne einen Quarter an Fremde

Nachbarschaftlichkeit in Michigan

Nachbarschaften, Stadteile, Städte: alles ist hier vernetzt. Über Apps wie Nextdoor, über Facebook-Gruppen, und egal welches Problem jemand hat, es kommt sofort Hilfe. Leute, die sich nicht kennen, schreiben so etwas in die Gruppen: ‚Mein Sohn braucht morgen Nachmittag ein weißes Polo-Hemd in Größe M‘ – ‚Wir haben eins, könnt ihr geliehen haben. DM mir eure Adresse, dann legen wir es euch vor die Tür.‘ ‚Wir haben noch eine Packung (Babynahrung, Windeln, Wein, Nüsse….was auch immer). Liegt auf unserer Frontveranda zum Abholen bereit.‘

Noch viel mehr in Michigan

Schule

Ich habe hier schon einen langen Blogpost über das Leben an unseren Schulen geschrieben, daran hat sich nichts geändert.

Schulbus amerikanischer Schulbus School bus
Selbstverständlich ist der Schulleiter beim Ausflug dabei und räumt alle Taschen, Rücksäcke und Koffer aus dem Schulbus aus.

Nochmal und nochmal Schule

Diese kleine Szene im Schulbus hat soviel ausgesagt über das Leben an der Schule hier, lies es nochmal hier nach.  Und wo wir schon bei Positivität (das ist kein Wort, ich weiß) sind, hier ist noch mehr davon: HIER!

Amber Alert

Auch über dieses Phänomen habe ich schon geschrieben, lies mal hier. Das gleiche Warnsystem informiert übrigens auch über Tornados und andere große Gefahren. 

Das Wetter

Für das Wetter kann zwar keiner was (jetzt mal vom Klimawandel abgesehen), aber es macht was mit den Menschen hier. Und ich liebe es, deswegen habe ich auch schon ausführlich darüber berichtet.  

Verbundenheit in Michigan

Hier kommt jeder irgendwoher. Auch wenn die alten weißen Männer diese Tatsache nicht mehr ganz auf dem Schirm zu haben scheinen, selbst Rednecks sind stolz auf ihre Wurzeln. Die Themen Wetter und Wurzeln sind in der Regel die ersten, die man im Gespräch mit Fremden klärt. Stammbaumforschung ist nicht nur in Utah weit verbreitet, und jedeR kann auflisten, welche Vorfahren aus welchem Land kamen. In den allermeisten Fällen führt das zu großer Neugier auf Fremde und Freude, jemanden aus dem Land der Vorfahren zu treffen, da hat man doch gleich einen gemeinsamen Nenner.

Machermentalität in Michigan

Die kleinen Minibüchereien gibt es auch überall in Deutschland, glaube ich. Trotzdem möchte ich sie erwähnen, weil sie hier in der Regel von Privatleuten aufgestellt werden und sie einfach so süß sind. Diese hier haben unsere Nachbarn gebastelt und auf ihrem Grundstück aufgestellt.
Menschen nehmen hier Sachen in die Hand. Teilweise, weil sie es müssen, weil kein Stadt/Kreis/Land verantwortlich ist. Zum Beispiel hat sich ein Trupp Freiwilliger gefunden, die einen Steg durch das Feuchtgebiet hinter unseren Häusern gebaut hat, damit man ganzjährig trockenen Fußes zum dahinter liegenden Wald kommt.

Little Library, kleine Bibliothek am Wegesrand
Machen die Welt ein bisschen schöner

Grüßen in Michigan

New Yorker tragen ihre Sonnenbrillen bei Nacht. Einen falschen Blick in der U-Bahn riskiert man nicht unbedingt. In Detroit – der Stadt mit dem sagenhaft schlechten Ruf – grüßen Wildfremde. Wenn man am Flussufer entlang spaziert, ist das ein ständiges: „Hi“! Man wird angelächelt, im Supermarkt, auf der Straße, eigentlich immer. Eine Freundin hat das mal so formuliert: Wir sind aus dem Midwest: Wir umarmen Fremde. (We are Midwesterners: We hug strangers).
Man redet auch immer mit jedem, einfach so. Meine Töchter haben schon gesagt, dass uns die Leute für komisch halten werden, wenn wir zurückkommen, weil wir immer gleich mit jedem ein Gespräch anfangen und das völlig normal finden.

Detroit b3liev3 in DET
Say nice things about Detroit

Sandy in Michigan

Sandy gibt es schon ewig. Alle Erwachsenen in Michigan sind als Kind auf ihr durch die Supermarkt-Prärie geritten. Sie ist das geliebte Symbol der Supermarkt-Kette Meijer, die auch heute noch der gleichnamigen Michigander Familie gehört. Und wie schon seit Menschengedenken kostet der Ausritt auch heute noch genau einen Cent.

Sandy at Meijer Mechanisches Pferd als Supermarktattraktion
Liebling Sandy – manchmal ist sie auch krank

Quilts, überall Quilts in Michigan

Ja, ich gebe zu, das ist extrem subjektiv. Macht mich aber trotzdem glücklich.

Quilts Festival Festivalwiese Open Air Konzert
Quiltkultur
Barn Quilts an Scheunen
Hölzerne Quiltblöcke an Scheunen

Rechtschaffenheit in Michigan

Hier passiert unglaublich viel auf Vertrauensbasis. Wie in Deutschland auch, wenn an der Straße zum Beispiel Stände mit Eiern, Feuerholz etc. stehen, die man sich selbst wegnehmen darf und Geld in eine Kasse legt. Das gibt es hier überall.
Aber auch beim Zoo oder Museum: Es wird gefragt, ob man ein Auto dabei hat. Man sagt ja und bezahlt freiwillig 9 Dollar Parkgebühr. Oder im Cafe, wenn einfach davon ausgegangen wird, dass die Gäste ihren Kaffee bezahlen.

Coffee shop, Kaffee, Café in Amerika auf Vertrauensbasis

Vieles davon gibt es natürlich auch in Deutschland.

Ich könnte jetzt eine Liste mit Argumenten anschließen, warum ich AmerikanerInnen nicht mag. Aber erstens ist das meiste davon hinlänglich bekannt, und im Moment müssen wir uns noch mehr auf das Gute konzentrieren als ohnehin schon.
Pass auf Dich auf.

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen schön geschriebenen, langen Blogpost. Ich würde gerne mal für ein oder zwei Jahre nach Amerika ziehen und ein kleines Stückchen vom Land und der Kultur kennenlernen. Bin mir allerdings ziemlich sicher, dass ein ordentliches finanzielles Polster das Leben dort definitiv leichter macht. Herzliche Grüße
    Kristina

    • Hallo Kristina, danke schön! Ich bin sehr dankbar für die vielen Erfahrungen, die wir hier machen dürfen. Du kennst Dich ja damit aus, im Ausland zuhause zu sein. Und ja, so ein Polster macht jeden Ort attraktiver. Gerade hier, wo einen eine Krankheit ganz schnell auch ins finanzielle Verderben stürzen kann.
      Liebe Grüße, Nico

  2. Ich finde es sehr sympathisch, wir du diese ganzen positiven Dinge aufzählst. Ich war noch nie in den USA, aber wenn, dann würde ich glaube ich gerne mal Ann Arbor besuchen. Liebe Grüße, Gabi

    • Hallo Gabi, wäre das schön! Ich hätte großen Spaß, Dir das hier zu zeigen. Und dann würde ich Dich zum Quilting der Gilde mitnehmen :o)) Träumen darf man ja mal, oder? Liebe Grüße, Nico

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert