Whoopee – heute machen wir mal Fehler!

Improvisational Quilting mit Sherri Lynn Wood

oder: Fehler feiern

Heute erzähle ich von den jeweils eintägigen Workshops „Get your Wedge Curve on“ und „Bias Strip Curves“ mit Sherri Lynn Wood. Die Greater Ann Arbor Quilt Gilde organisiert alle zwei Monate ein Quiltwochenende im Washtenaw Community College. Zu den Wochenenden werden Referenten eingeladen, die Workshops am Freitag und Sonntag geben. Samstags findet das Gildentreffen statt: man trifft sich, erfährt Neuigkeiten, bewundert Quilts, zeigt und sammelt die gespendeten Quilts für das Safehouse (Frauenhaus) ein, es gibt kleine Demonstrationen, manchmal kommen Quiltläden mit einem Verkaufsstand, und die Referenten halten einen Vortrag. An einigen Wochenenden im Jahr kommen noch Stoff-Flohmarkt, Wohltätigkeitsstoffverkauf und andere besondere Events dazu. Gründe genug, möglichst keins der Wochenenden zu verpassen. Das zur zur Erklärung.

Mein erster Eindruck von Improvisational Quilting wird ein bleibender sein. Zu sehr hat mich diese (für mich) neue Art des Denkens beeindruckt. Und zwar weit über das Quilten hinaus.

„Besonders schwierige Zusammennähsituationen bringen ein ganz neues Gefühl für das Patchworken, den Stoff und die Möglichkeiten“.

Ist das so? Aha???

Ich fühle mich schon ein bisschen merkwürdig, wenn ich absichtlich zu einem Workshop gehe, dessen erklärtes Ziel es ist, dass die TeilnehmerInnen möglichst viele Fehler machen, aus denen sie dann lernen sollen. Muss das denn sein, auf die schmerzhafte Tour? Meine Frustrationstoleranz hat noch nicht das amerikanische Niveau erreicht. Noch mulmiger wird mir im Sonntag-Workshop, als auf die Frage der Referentin, wie lange die Anwesenden denn schon quilten, alle bis auf eine bei „mehr als 20 Jahre“ aufzeigen. Klar. Ich glaube, es gibt hier Säuglingsquilten, Baby Bees und Pekip-Patchwork-Kurse. Quilten gehört einfach zu den von Kindesbeinen an erlernten selbstverständlichen Kulturtechniken.

Sherri Lynn Wood

Sherri Lynn Wood in Ann Arbor

Sherri Lynn Wood ist eine Künstlerin aus Kalifornien. Linda Theil von der Greater Ann Arbor Quilt Gilde hat sie kurz vorgestellt, die deutsche Fassung findest Du hier. Geh mal auf ihre Seite daintytime.net und schau Dir an, an was sie so alles arbeitet. Ich mag besonders das Projekt, nur Müllmaterialien zu verarbeiten. Am besten gefällt mir aber ihr Buch „The Improv Handbook for Modern Quilters“, das von guten Ideen, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und wundervollen Bildern überquillt.

Improv Handbook for Modern Quilters by Sherri Lynn Wood

Sie quiltet seit ihrer Jugend und hat ihre größte Inspiration durch eine Ausstellung afro-amerikanischer Quilts erfahren. Ich weiß, wovon sie redet, denn ich war im April 2016 im Flint Institute of Art und habe mir das erste Mal afro-amerikanische Quilts angesehen. Das war ein umwerfendes Erlebnis. Lies unbedingt erst hier, bevor Du hier weiter liest!!!

Die afro-amerikanischen Frauen haben es vorgemacht, wir dürfen es nachmachen: IMPROVISIEREN! Hast Du hier nachgelesen? Gut, dann geht es hier unpolitisch und mit weniger Psycho weiter. Zurück zum Quilten mit Sherri Lynn Wood.Und Sherri ist genau die Richtige, mir das beizubringen.

Ich schmeiße Dir einfach ein paar Gedanken dazu an den Kopf, such Dir raus, was Dir passt:

Tu, was Du gerade möchtest.

Lass Deinen Bauch die Entscheidungen treffen.

Verbeiße Dich nicht in Deine Idee vom Endprodukt, lass Dich treiben vom Prozess, agiere, reagiere und sei kreativ.

Feier die Fehler als Impuls, in eine andere Richtung zu gehen.

Vertrau Dir selbst.

Pfeif auf die ausgetretenen Pfade, geh ungewohnte Wege. Oder (er)finde sogar selbst neue Wege.

Strebe nicht nach Perfektion.

Verlasse Dich nicht auf Vorgaben.

Höre au Deine innere Stimme.

Genieße Überraschungen.

Hab Mut. Trau Dich.

Geh Risiken ein (ok, wir quilten hier, die Risiken sind relativ übersichtlich, das gebe ich zu).

Lebe.

Folge Deiner Intuition.

Sei gelassen.

Feiere Fehler.

Finde Dich selbst.

Hab Spaß.

Ich weiß, ich rutsche schon wieder ins Esoterische ab, aber ich sehe diese Verbindung tatsächlich, selten hat mich etwas so mitgerissen. Ich habe mit offenem Mund an Sherri Lynns Lippen gehangen und war hin und weg. Das war so motivierend und inspirierend. Und es stimmt doch: Wer von uns lebt das Leben, das er/sie beim Schulabschluss fein säuberlich geplant hatte? Eben.

Sherry Lynns Botschaft des Tages: „Wenn Du es denken kannst – probier es aus! Trenn Dich von der „Man-macht-nicht-du-musst“-Zwangsjacke! – Ja, gerne eigentlich. So geht es los. Trau Dich! Geht es in diesem Workshop wirklich um Kurvennähen?

Sherri Lynn erzählt uns von einer Gee’s-Bend-Klasse, an der sie vor einer Weile bei einer großen Quiltveranstaltung teilgenommen hat. Die einzige Instruktion, die die Frauen gaben, war: „OK, fangt an zu nähen!“ (Nur zur Beruhigung: Sherri Lynn hat deutlich mehr Anweisungen auf Lager.)

Sich auf den Gedanken einzulassen, dass Fehler meistens zu den interessantesten Effekten führen, neue Ideen kreieren und der Arbeit eine andere Richtung geben können, macht das Leben, hoppla, das Nähen natürlich, wesentlich einfacher.

Vor dem eigentlichen Nähen schickt Sherri Lynn uns auf eine Reise zu uns selbst. Mit einer kurzen Meditation zentriert sie uns, und das ist unglaublich hilfreich, um sich konzentrieren und den Alltagskram einfach vor die Tür stellen zu können.

Als es dann ans Arbeiten geht, zwingt Sherri uns sanft, aber bestimmt, immer wieder dazu, nicht krampfhaft an ein fertiges Ergebnis zu denken. Und japp, manche von uns benötigt einige Erinnerungen daran, dass sie wirklich, also wirklich wirklich, keinen Plan, kein Schnittmuster braucht. Lass los, verlier dich! Immer nur ein Schritt. Und mach dir keine Sorgen, etwas falsch zu machen. Du triffst deine eigenen Entscheidungen, die keinen Erwartungen entsprechen, kein Ziel erreichen müssen, deswegen können sie auch nicht falsch sein. Diese Haltung befreit enorm. Mach deinen Feind zu deinem Freund: Ein riesiger Knubbel in der Mitte deines Projektes senkt  ganz gewaltig die Hemmschwelle, den guten Stoff einfach mitten durchzuschneiden.

Und so geht es fröhlich an die Arbeit. „Schneidet Streifen und näht sie aneinander. Macht sie (manche mehr, manche weniger) keilförmig, so bekommt ihr hübsche Fächer. Und sprecht mir nach: Ich habe keinen fertigen Plan im Hinterkopf. Ich folge nur meinem Gefühl und beobachte, was passiert. Ich agiere, reagiere, bin kreativ. Und genieße den Prozess.“

Cut wedge-shaped strips

Nachdem wir auf diese Weise einige Fächer zusammengenäht haben, ermuntert Sherri Lynn uns, sie zu kombinieren, mit ihnen zu spielen. „Habt keine Angst, sie auseinander zu schneiden, das wird euch neue Perspektiven eröffnen“.

… and do!

Weiter geht’s, wir entwerfen, versuchen, entwickeln Ideen, verwerfen Ideen, haben neue Ideen… was für ein schaffensreicher Workshop.

Schrägbänder an kurvigen Stoff nähen…

Workshop? Ach, ja, Kurven, ich hatte mich angemeldet, um Kurven nähen zu lernen, stimmt’s?

Habe ich auch, so nebenbei. Sherri zeigt uns natürlich, wie das geht. Aber es ist weit mehr als das: Sie ist das wandelnde Lexikon für jede Nähkatastrophe. Du kommst nicht weiter, hast eine riesige Beule mitten im Quilt, eine dicke Falte, hast einfach richtig großen Mist zusammengeschustert? Nicht verzagen, Sherri fragen. Sie kennt immer einen Trick, wie das Problem elegant gelöst werden kann. Und tatsächlich: bei jedem Fehler, den eine von uns hilfesuchend zu Sherri nach vorne trägt, kommen gleich alle anderen TeilnehmerInnen hinzu, um die Lösung sofort mitzubekommen.

So sieht es aus, wenn Sherri Lynn das macht…

Einer ihrer Lieblingssprüche ist „Glück ist der kleine Bereich zwischen zu viel und zu wenig“.

Ich glaube jetzt nicht, dass ich zu viel von ihrem Workshop haben könnte, aber als der Tag vorbei ist, verlasse ich den Raum voller Inspiration, Motivation und guter Laune.

Und noch was habe ich mitgenommen:

Das „Ja, und“! 

Wenn Du demnächst jede Deiner Fragen mit einem „ja, und“ angehst, wirst Du die Lösung finden. Denk nur nicht „ja, aber“.

Das geht so: Es gibt zwei Sorten von „ja“. Stell Dir vor, Du rufst Deine Freundin an, um Dich mit ihr zum Abendessen zu verabreden. Hast Du FreundInnen, die dann antworten: „Ach, schön dass du anrufst. Abendessen? Ja, aber…“. Kannst Du es schon spüren? Auf dieses „aber“ folgen Bedenken, Zweifel, Zögern, blablabla. Und am Ende gehst Du alleine essen.

Und wenn Deine Freundin sagt: „Ach, schön dass du anrufst. Abendessen? Ja, und…“?, dann erwarten Dich kreative Erweiterungen wie „…und ich weiß auch schon, wo wir hingehen können!“, „…und wir könnten noch x und y fragen, ob sie mitkommen!“, „…und wir könnten uns früher treffen und noch bummeln gehen!“ und so weiter.
Welche Freundin rufst Du lieber an?

Ich habe beschlossen, dass ich lieber zur „ja, und“-Sorte Mensch gehören möchte. Danke, Sherri Lynn, für’s Drauf-Aufmerksam-Machen. Ja, und Kurvennähen kann ich auch schon fast!

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